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„Abseits des Elternhauses wird Finanzwissen kaum vermittelt “ – Interview mit Sylvia Hüls vom BÖB

Depotstudent Dominik
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Liebe Depotstudent-Leserschaft, heute habe ich eine spannende Interview-Partnerin mitgebracht!

Sylvia Hüls, die Geschäftsführerin des „Bündnis Ökonomische Bildung Deutschland“ (BÖB), hat sich für ein Interview bereit erklärt und konnte mir spannende Antworten auf wichtige Fragen rund um finanzielle Bildung in Deutschland geben.

Es geht um Finanzbildung, die Förderung finanzieller Intelligenz in Schulen, den internationalen Stand der Dinge, die Rolle sozialer Medien für Finanzbildung und einiges mehr.

Viel Spaß mit dem Interview!

Frau Hüls, herzlichen Dank, dass Sie sich Zeit für das Interview nehmen! Warum hat Finanzbildung eine so große Relevanz? Geht es nicht auch ohne?

Finanzielle Bildung bedeutet, besser im Leben zurecht zu kommen. Egal, ob es darum geht, ein Konto zu eröffnen, einen Handyvertrag abzuschließen oder Geld zu sparen und anzulegen. Finanzielle Bildung spielt in jeder Lebensphase eine Rolle. Sie hilft, Risiken zu vermeiden, sich finanziell gut aufzustellen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Ohne Finanzbildung geht es nicht. Nach einer Erhebung der Wirtschaftsauskunftei Creditreform sind etwa 8 Prozent der Erwachsenen in unserem Land überschuldet. Das heißt, dass sie nicht in der Lage sind, ihren finanziellen Verpflichtungen nachzukommen und ihre Rechnungen zu bezahlen. Überschuldete Menschen drohen in Armut abzurutschen, soziale und psychische Probleme sind häufig die Folge. Unwissenheit und unreflektiertes Konsumverhalten sind die Ursachen, denen man auch mit besserer Finanzbildung durchaus begegnen kann.

An welchen Punkten sollte man konkret ansetzen, um eine größtmögliche Wirkung zu entfalten?

Für uns ist die Schule der zentrale Ort, um die Grundlagen für eine solide Finanzbildung zu legen. Hier erreicht man alle Schülerinnen und Schüler. Expertinnen wie Annamaria Lusardi vom Stanford Institute for Ecomomic Policy Research gehen sogar noch weiter und sagen: Finanziell gebildete Kinder sind Multiplikatoren für das Thema. So könne man beobachten, dass Kinder das Thema und ihr erworbenes Wissen in die Familien tragen.

Das Interesse von jungen Menschen für Finanzthemen ist groß. Aber deutsche Schulen schaffen es nicht, ihnen das entscheidende Wissen über Wirtschaft und Finanzen mitzugeben. Voraussetzung für eine gute Finanzbildung in der Schule sind die verbindliche Verankerung in den Lehrplänen und gut ausgebildete Lehrkräfte. Aber hier hakt es.

Eines der Ziele des BÖB ist die „verbindliche Aufnahme ökonomischer Bildungsinhalte in geeignete Schulfächer“. Wie könnte die Umsetzung in der Praxis ganz konkret aussehen?

Ökonomische Bildung lässt sich in die Lehrpläne integrieren – ohne, dass Schülerinnen und Schüler länger zur Schule gehen müssen. Finanzbildung ist ein Teilbereich der Ökonomischen Bildung. Verbraucherbildung, Wirtschaftspolitik, Wirtschaftsethik, Berufsorientierung oder Wissen über das Gründen von Unternehmen – wir sprechen hier von Entrepreneurship Education – gehören ebenso dazu. Optimalerweise werden diese Bereiche in einem Schulfach Wirtschaft unterrichtet. Es gibt auch die Möglichkeit, Kombinationsfächer anzubieten. So gibt es in Bayern das Schulfach „Wirtschaft und Recht“.

Ein sehr gutes Beispiel liefert das Land Baden-Württemberg. Hier wurde im Jahr 2016 das Schulfach Wirtschaft, Berufs- und Studienorientierung an allen allgemeinbildenden weiterführenden Schulen eingeführt. Parallel wurde die Ausbildung der Lehrkräfte entsprechend aufgebaut. Eine Studie der Universität Koblenz-Landau (jetzt Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau) hat eine erste positive Bilanz gezogen.

Welches sind für Sie die wichtigsten Themen des BÖB? Wo brennt es in Deutschland am meisten?

Ob jemand bessere oder ungünstigere Wirtschafts- und Finanzentscheidungen trifft, hängt heute noch stark von der sozialen Herkunft ab, also ob man Wirtschafts- und Finanzwissen im Elternhaus mitbekommt. Außerhalb dessen wird in Deutschland dieses Wissen nirgendwo sicher und systematisch vermittelt – in der Schule kommt (fast) nichts davon bei den Schülerinnen und Schüler an. Das muss sich ändern, denn Ökonomische Bildung in der Schule kann wesentlich zu Chancengleichheit, Bildungsgerechtigkeit, Teilhabe und sozialem Aufstieg – und damit zu einer stabileren Gesellschaft – beitragen.

Die Initiative #NeustartBildungJetzt bringt die aktuellen Probleme der Gesellschaft und des Bildungssystems auf den Punkt: Leistungsdefizite, Chancenungleichheit, Fachkräftemangel. Als BÖB bringen wir in der Initiative die Perspektive der Ökonomischen Bildung ein, da wir sie für Chancen- und Bildungsgerechtigkeit besonders wichtig finden. Wir fordern, dass die Schülerinnen und Schüler besser auf das Leben der nächsten Jahrzehnte vorbereitet werden sollen. Dazu ist es notwendig, den Fächerkanon an Schulen zukunftsfähig zu machen.

Gibt es in Deutschland bereits Schulen oder andere Bildungseinrichtungen, die nach Ihren Vorstellungen Finanzbildung vermitteln?

Es gibt bereits einige Schulen und Lehrkräfte, die Vorbildcharakter haben und durch gute Wirtschaft- und Finanzbildung Schülerinnen und Schüler für diese Themen motivieren. Ein gutes Beispiel liefert das Herbartgymnasium Oldenburg. Die Schule hat eine Profilklasse eingerichtet, in der das Fach Wirtschaftslehre wöchentlich mit zwei Stunden und der Themenbereich Wirtschaftsethik im Umfang von einer Wochenstunde unterrichtet werden. Dies gilt als deutschlandweit einmaliges Projekt. Lehrer der Profilklasse ist Janosch Schierke, der seine Schülerinnen und Schülern auch regelmäßig anleitet, Schülerfirmen zu gründen oder mit ihnen an Wettbewerben, Planspielen und besonderen Projekten zur Wirtschafts- und Finanzbildung teilnimmt.

Die Schülerinnen und Schüler der Jacob-Grimm-Schule in Kassel oder des Goethegymnasiums Weimar werden durch ihre Lehrkräfte regelmäßig durch die Teilnahme an Wettbewerben an aktuelle Themen aus der Wirtschafts- und Finanzwelt herangeführt.

Dr. Jean Marie Schwarzkopf vom Eppendorf Gymnasium wurde im April mit dem Deutschen Lehrkräftepreis 2023 für seinen innovativen und motivierenden Unterricht ausgezeichnet. Bereits seit 2013 setzt er sich u.a. für die Finanzbildung seiner Schülerinnen und Schüler ein und vermittelt Wissen über Finanzanlagen, Versicherungen oder Steuern.

Wie steht Deutschland beim Thema „Finanzbildung“ im Vergleich zu anderen Nationen da? Gibt es besonders gute Vorbilder, an denen sich Deutschland orientieren könnte?

Die Finanzkompetenz der Bürgerinnen und Bürger ist im internationalen Vergleich gut, jedoch weist sie Lücken in bestimmten Themenbereichen und Bevölkerungsgruppen auf, so die Analyse der OECD. Sie arbeitet in ihrem Bericht beispielsweise fünf Bereiche der Finanzkompetenz heraus, in denen besonderer Handlungsbedarf besteht: Langfristiges Sparen und Altersvorsorge, Beteiligung am Kapitalmarkt, verantwortungsvolle Nutzung von Krediten, sichere Nutzung digitaler Finanzdienstleistungen und Sustainable Finance. (siehe Mapping-Report „Finanzbildung in Deutschland: Finanzielle Resilienz und finanzielles Wohlergehen verbessern“, S. 15 f.)

Die OECD/INFE hat bereits nach der Finanzkrise von 2008 Grundsätze für nationale Finanzbildungsstrategien entwickelt. Viele Länder sind seither den Empfehlungen des OECD/INFE gefolgt: In den Niederlanden unterstützt beispielsweise Königin Máxima, die sich auch als UN-Botschafterin aktiv für das Thema einsetzt, die Finanzbildung der Bevölkerung. Schweden hat die Vermittlung von Finanzwissen in sieben Modulen passend für unterschiedliche Lebensphasen etabliert. Österreich hat im Jahr 2021 eine Nationale Finanzbildungsstrategie verabschiedet. Und auch Italien hat eine Strategie entwickelt, die für Finanzbildung und den Angeboten im Land wirbt. In Deutschland fehlt bisher eine nationale Strategie, was sich aber jetzt ändern soll.

Initiative Finanzielle Bildung: Was ist geplant? Was erhoffen Sie sich? Was halten Sie für besonders wichtig, damit die Initiative Wirksamkeit erzielt?

Bundesfinanzminister Christian Lindner und Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger haben die Initiative Finanzielle Bildung im vergangenen Jahr ins Leben gerufen. Ziel ist es, eine Finanzbildungsstrategie für Deutschland gemeinsam mit der OECD zu erarbeiten. Zudem möchten die beiden Bundesministerien eine zentrale Finanzbildungsplattform aufbauen und die Forschung zu finanzieller Bildung stärken.

Top aktuell ist der von der OECD vorgelegte Mapping-Report „Finanzbildung in Deutschland: Finanzielle Resilienz und finanzielles Wohlergehen verbessern“. In dem Bericht wird erläutert, warum es erforderlich ist, das Finanzkompetenzniveau der Menschen in Deutschland zu steigern und eine nationale Finanzbildungsstrategie einzuführen.

Als entscheidend sehen wir die Einbindung der Schulen in die Strategie. Dafür ist ein Dialog zwischen Bund und Ländern unabdingbar. Denn Bildung an Schulen ist Ländersache.

In den sozialen Medien (vor allem auf Instagram, TikTok & Co.) gibt es mittlerweile massenhaft Inhalte zu Geldanlage, Investments und angrenzenden Finanzthemen. Sehen Sie solche Inhalte tendenziell positiv oder lauern hier eher Gefahren?

Grundsätzlich ist es gut, wenn Jugendliche durch TikTok & Co. motiviert werden, sich um ihre Finanzen zu kümmern. Es gibt viele seriöse Informationsangebote, aber auch unseriöse Empfehlungen. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht gibt hier klare Tipps. So sollten sich Nutzer nie unter Druck setzen lassen, sich möglichst umfassend informieren und immer prüfen, mit welchem Anbieter sie es zu tun haben und welche finanziellen Motive dieser verfolgt. Transparenz des Anbieters und Vorsicht des Users sind am wichtigsten.

Wie kann man sich engagieren und das BÖB unterstützen?

Das BÖB ist eine von über 100 überwiegend institutionellen Mitgliedern getragene gemeinnützige Initiative aus Lehrkräften, Verbänden, Stiftungen, Wissenschaft und Wirtschaft. Wir setzen uns dafür ein, dass Ökonomische Bildung im Unterricht in allen weiterführenden Schulen in Deutschland verankert wird. Um dieses Ziel zu fördern, machen wir uns für eine bessere fachbezogene Qualifizierung der Lehrkräfte stark. Interessierte können sich im BÖB als ordentliches oder als Fördermitglied engagieren. Wenden Sie sich gerne an mich oder an unseren Vorstand. Beim BÖB KONGRESS 2024 können Sie sich persönlich ein Bild von unserer Arbeit und unserem Netzwerk machen.

Sylvia Hüls
Geschäftsführerin des
Bündnis Ökonomische Bildung Deutschland e.V.
Florastraße 29, 40217 Düsseldorf
Tel. +49 (0)211 385 85 98 I Mobil +49 (0)160 99 56 3013
E-Mail: sylvia.huels@boeb.net – Internet: https://boeb.net/

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